Leben mit einem Angsthund
geschrieben von Nicola Berg, August 2020
Als mir vor einiger Zeit die Idee zu diesem Artikel kam, habe ich mich zuerst gefragt, ob alleine schon die Überschrift richtig ist. Lebt man wirklich immer mit einem Angsthund oder übernimmt man einen Angsthund, arbeitet mit ihm, löst die Probleme und lebt dann nach ein paar Monaten oder Jahren mit einem „normalen“ Hund?
Beantwortet hat diese Frage in den letzten Tagen mein Hund.
Zu uns
Ich: Hundetrainer, Tierschützer, eigensinnig
Mein Hund: Maa Miy, Schnauzer-Mischling, 9-10 Jahre, seit 2,5 Jahren bei mir, weiß, dass sie schlauer ist als ich, sieht mir das aber nach
Maa Miy stammt aus Rumänien. Sie lebte dort als Strassenhund, bis sie mit ca. 2-3 Jahren zusammen mit ihren 5 Welpen von Hundefängern ins Shelter geschmissen wurde.
Sie war eine großartige Mutter, hatte aber panische Angst vor Menschen.
Tierschützer retteten die Familie, die Welpen konnten vermittelt werden, die ängstliche Mutter war ein Problem. Sobald Maa Miy Menschen sah, war sie im Fluchtmodus.
Man versuchte mit ihr zu arbeiten, sie war in Rumänien in wirklich guten, engagierten Pflegestellen, aber sie blieb stets im alten Verhaltensmuster – ein hoffnungsloser Fall.
Wir bauten gerade unsere Angsthund-Therapie auf und da im Winter immer Flaute ist, ich gerne helfen wollte und auch einen Hund brauchte, bei dem ich unsere Arbeitsweise filmen und publik machen konnte, bot ich an Maa Miy, die inzwischen seit 5 Jahren in Rumänien bei den Tierschützern fest saß, ehrenamtlich aufzunehmen und mit ihr zu arbeiten.
Maa Miy war, wie alle Hunde in der Situation, mit den Nerven am Ende, als sie vom Transport aus Rumänien bei uns ankam.
Sie war nicht anfassbar, nicht stubenrein, kannte weder Halsband noch Leine. Wenn sie auch nur den Hauch einer Chance gesehen hätte, um zu entkommen, wäre sie weg gewesen.
Ein 2m hoher Zaun? Kein Hindernis für einen panischen Hund. Er springt, klettert, untergräbt, beisst sich durch,…
Die Balkontür nur einen Spalt offen? Lachhaft !!!
Ein Sprung aus 5m Höhe? Auch das würde der Hund wagen, denn aus seiner Sicht ist alles besser, als in dieser Hölle eingesperrt zu sein
Unsere Arbeit begann mit ganz kleinen Schritten. Die Anwesenheit eines Menschen ertragen, Futter aus der Hand nehmen, erste Berührungen erdulden. Das Geschirr kennenlernen.
Erst später konnte man daran denken mit ihr raus zu gehen. Alles doppelt und dreifach abgesichert. Sicherheitsgeschirr, Halsband, beides aneinander gekoppelt, 2 Leinen. Dann im Beisein der anderen Hunde erstmals auf den Hof.
Bei den ersten Versuchen schafften wir keine 50m, denn niemals zerrt man an der Leine.
Man geht einen Schritt, wartet bis der Hund folgt, geht den nächsten Schritt. Es ist ein riesiger Erfolg, wenn der Hund anfängt sich für die Umgebung zu interessieren, schnuppert, schaut, vielleicht sogar den Mut hat an der Leine zu urinieren. Das alles wird belohnt, aber nicht mit Berührungen, denn die sind noch furchteinflößend. Mit tiefer, ruhiger Stimme, in der all die Liebe liegt, die man dem Hund geben möchte. Vielleicht mit einem Leckerchen aus der Hand, wenn der Hund sich nicht dadurch bedroht fühlt.
Ansonsten lässt man den Hund schweigend gewähren.
Man fordert nicht, sondern ermöglicht. Man bietet Sicherheit und ein Miteinander an.
Maa Miy machte schnell Fortschritte und bereits nach 4 Wochen war für mich klar, dass ich diesen großartigen, hochintelligenten Hund niemals mehr hergeben würde. Wir wuchsen zu einem echten Team zusammen und vertrauen uns heute bedingungslos.
Zu Hause würde heute niemand mehr merken, dass Maa Miy ein Angsthund ist. Im gewohnten Umfeld, im Rudel mit unseren anderen Hunden ist sie extrem gechillt. Wenn wir beim Spaziergang Fremde treffen, bleibt sie völlig gelassen, möchte aber nicht angefasst werden. Sie läuft einfach in einem Bogen um die Leute herum und tut völlig desinteressiert.
Wenn Fremde ins Büro kommen, in dem sie auf ihrem Sofa thront, zuckt sie mit keiner Wimper solange ich dabei bin – bin ich nicht da, kommt keiner ins Büro, denn Maa Miy stellt durchaus eindrucksvoll, mit gefletschten Zähnen und Geknurre, klar, was sie von Eindringlingen hält.
Sie zögert nicht, sie denkt gar nicht an Flucht, sondern verteidigt ihr Revier.
Sie wirkt selbstsicher, arrogant und überheblich. Also so gar nicht „Angsthund“.
Jetzt sind Maa Miy und ich in Urlaub gefahren. Eine Ferienwohnung an der Nordsee, in der wir bereits im letzten Jahr waren. Da war aber ihr Freund Kobi mit dabei und es lief damals reibungslos und unauffällig.
Diesmal wollte ich es mir ruhiger machen und fuhr nur mit Maa Miy alleine.
Das war zwar nicht wirklich ein Fehler, denn es gab uns reichlich Gelegenheit zu lernen, aber es war eine Herausforderung und ehrlich gesagt hatte ich mir „Urlaub“ auch etwas entspannter vorgestellt.
Ich hatte nicht bedacht, dass Maa Miy in ihrem ganzen Leben noch niemals ohne andere Hunde gelebt hat. Das zog ihr erstmal den Boden unter den Füßen weg.
Ich hatte (zum Glück) ihre gewohnte Decke mitgenommen und da lag sie nun drauf. Extrem gestresst, permanent hechelnd, tat sie nicht einen Fuß von der Decke.
Der Wassernapf stand 50 cm entfernt, aber sie traute sich nicht bis dorthin.
Ich habe sie dann in der Wohnung angeleint und bin mit ihr mehrfach alles abgegangen, ließ sie schnuppern und gucken. Ich sprach nicht, beachtete sie scheinbar nicht, sondern ich trug völlig sinnfrei Dinge in der Wohnung hin und her. Durch die Leine musste sie mir folgen, gewann an Sicherheit und wir räumten Klopapier in die Küche, Bettwäsche ins Bad und Nudeln zum Fernseher, bis ich merkte, dass sie ruhiger wurde und entspannter.
Dann hielten wir einen festen Tagesablauf ein. Immer zur selben Zeit das Selbe tun bringt Vorhersehbarkeit und damit Sicherheit. Allerdings hat man dann keine Möglichkeit für spontane Ausflüge oder Unternehmungen und die Urlaubsgestaltung bestimmt der Hund.
Ab dem 5. Urlaubstag war alles wieder ok.
Maa Miy war arrogant wie immer, fing an zu verbellen, wenn sie Geräusche im Treppenhaus vernahm und bewegte sich völlig selbstverständlich in der Wohnung und dem Garten.
Also gehen wir jetzt um 9.30 h und 18.00h jeweils eine Stunde im Wald spazieren (immer die gleiche Runde, sonst wird sie nervös), nachmittags faulenzen wir im Garten und Einkäufe und Besorgungen legen wir auf den Abend, damit es nicht zu heiß ist, wenn Maa Miy im Auto auf mich wartet. Es ist undenkbar sie alleine in der Wohnung zu lassen, obwohl sie zuhause damit gar keine Probleme hat.
Maa Miy wird niemals ein Hund sein, der schwanzwedelnd in ein fremdes Haus rennt, alle Menschen stürmisch begrüßt und sich freut neue Freunde zu finden. Ganz einfach weil sie früh gelernt hat, dass eben nicht alle Menschen nett sind.
Wenn ich dabei bin, überlässt sie mir die Entscheidung, wer Freund oder Feind ist. Sie hält sich im Hintergrund, vertrauensvoll und ruhig. Sie begleitet mich überall hin und die feste Verbindung, auch durch die Leine, die zwischen uns herrscht, gibt ihr Sicherheit.
Aber sie wird immer ein Angsthund bleiben.
Damit ist sie nicht alleine. Die Zahl der Angsthunde in Deutschland wird immer höher.
Das liegt natürlich zum Teil daran, dass Tierschutzvereine Hunde wie Maa Miy aus dem Ausland nach Deutschland holen, um ihnen eine Chance zu geben.
Aber auch viele Hunde in Deutschland werden zum Angsthund, weil Welpen als Kindersatz angeschafft und nicht artgerecht aufgezogen werden. Weil keine Grenzen und Regeln vermittelt werden, die ein Hund so dringend braucht, sondern maßlose Liebe den Hund verunsichert. Es ist kein importiertes Problem, sondern auch ein gesellschaftliches.
Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht und diese „Hauptsache-ihr-habt-Spaß-Mentalität“ ist der Anfang vom Ende.
Fazit:
- Ein Angsthund kann nicht aus seiner Haut, er bringt ein Päckchen mit und das muss er tragen
- Angsthunde sind nichts für jedermann, denn sie haben besondere Bedürfnisse. Man braucht ein ruhiges, gut strukturiertes Umfeld. Eher ländlich, etwas außerhalb. Viel Einfühlungsvermögen, Verlässlichkeit, aber kein Mitleid. Angsthunde sind nicht zwingend aggressiv gegen Kinder, aber als Familienhunde kaum geeignet. Der naturgemäße Trubel, die Hektik, die Unordnung der Kinder, sind Gift für den Hund.
- Eine große Hilfe für den Angsthund ist das Zusammenleben mit einem ruhigen, souveränen Ersthund. Der gibt Struktur, Erfahrung und Sicherheit vor. Hunde gucken sich viel von einander ab
Die Bindung zu einem Angsthund ist etwas ganz Besonderes. Wenn man das Vertrauen geschenkt bekommt, ist das das größtmögliche Lob. Aber es ist auch eine große Verantwortung, denn der Hund braucht sie ein Leben lang.
Wenn man sich nur aus einer Laune heraus für einen Angsthund entschieden hat, weil das Foto im Internet so süß war oder die Tierschützer so gebettelt haben und man merkt dann, dass man keinen immer fröhlichen Sonnenschein neben sich hat, sondern einen Hund mit Einschränkungen und gibt den Hund dann zurück, wird er zerbrechen.
Es ist fraglich, ob dieser Hund noch mal bereit sein wird einem Menschen voll und ganz zu vertrauen.
Bitte seien sie ehrlich zu sich. Können sie einem Angsthund bieten, was er so dringend braucht? Wenn nicht, dann nehmen sie keinen Hund unbesehen, in dessen Beschreibung steht „bei Menschen schüchtern“, „noch etwas unsicher“ oder „lässt sich noch nicht anfassen“.
Diese Hunde gehören erstmal in erfahrene Hände. Sie müssen in kleinen Schritten lernen zu vertrauen, bevor sie zu, sicher hochmotivierten, Laien können.
Wenn ein solcher Hund in einer Pflegestelle auf das Leben vorbereitet wird, man in Besuchen ein erstes, zartes Band schmieden kann und dann auch nach der Übernahme eine erfahrene Person um Hilfe bitten kann, dann braucht man nicht zwingend Hunde-Erfahrung, sondern nur Empathie und Kompromissbereitschaft.